Wie ist es, du zu sein?

Leviathan Press:

Wenn wir über Charakter sprechen, scheinen wir ihn immer als ein relativ festes Phänomen zu betrachten. Tatsächlich haben jedoch viele Fälle in der Neurologie (wie etwa Rosemary Kennedy, HM) bewiesen, dass nach der Entfernung oder Erkrankung eines Teils des Gehirnbereichs Ihre frühere Persönlichkeit zerfallen kann, oder mit anderen Worten, Sie sind nicht mehr das ursprüngliche Ich, das Sie nach außen hin erscheinen.

Der Autor dieses Artikels schlussfolgert daher, dass diese Veränderung dazu führt, dass das andere Selbst, das ursprünglich in Ihrem Gehirn existierte, das vorherige Selbst übernimmt – angesichts der erstaunlichen Neuroplastizität des Gehirns („Der Junge, dem die Hälfte seines Gehirns entfernt wurde“) ist diese Aussage zweifellos faszinierend/erschreckend.

Wie ist es, du zu sein? Wenn ich „Sie“ sage, meine ich Sie als Leser.

Dies ist eines der wichtigsten Probleme, mit denen ich zu kämpfen habe, aber meiner Meinung nach ist es eines, mit dem sich jeder auseinandersetzen sollte! Wenn Sie die Bedeutung dieser Frage nicht verstehen, hören Sie bitte auf, diesen Artikel zu lesen, starren Sie sich einige Minuten lang im Spiegel an, wiederholen Sie diese Frage mehrere Male und achten Sie darauf, wenn Sie sich verwirrt fühlen.

Eine weitere berühmte Übung von Douglas Harding besteht darin, auf Ihre Füße, Hände, Ellbogen, Finger und dann auf Ihren Kopf zu schauen. An diesem Punkt werden Sie einen Bildschirm bemerken, der die Welt darstellt, und nicht dort, wo Ihr Kopf sein sollte. Es bedeutet, dass die Welt genau dort ist, wo Ihr Kopf sein sollte. Diese Übung soll Ihnen beibringen, dass Sie Ihren Kopf ohne die Hilfe eines Bildes, Spiegels oder anderen reflektierenden Objekts nie wirklich sehen können. Ehrlich gesagt, bist nicht du der Kopf, sondern die Welt, die dir präsentiert wird.

Douglas Harding, Der Weg ins Nirgendwo. © Wiki Man kann es sich auch so vorstellen: Während Sie diesen Artikel lesen, reagieren Billionen von Synapsen in Ihrem Gehirn elektrochemisch, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind. Wenn ich jedoch auf Ihre Zehen zeige, wissen Sie, wie sich Ihre Zehen anfühlen. Wie fühlen sich Ihre Zehen in diesem Moment an? Ist die Luft um Sie herum warm oder kühl? Nachdem ich Sie nun auf diese Probleme aufmerksam gemacht habe, müssen Sie sich dieser Gefühle bewusst sein.

Im Moment konzentrieren sich die meisten Ihrer Gedanken auf das Gefühl Ihrer Zehen oder der Luft um Sie herum. Das ist es, was ich mit Bewusstsein oder vielmehr Halbbewusstsein meine. Wenn ich Sie nicht darauf hingewiesen hätte, wäre es Ihnen nicht aufgefallen. aber nachdem ich Sie nun darauf hingewiesen habe, können Sie nicht anders, als darüber nachzudenken.

Viele Dinge geschehen in einem halbbewussten Zustand, zum Beispiel das Atmen. Atmen Sie ein oder aus? Sobald Sie Ihre Aufmerksamkeit auf sie richten, bleiben sie im Zentrum Ihres Bewusstseins. Es gibt jedoch einige Dinge, die Sie nicht wahrnehmen können, wie beispielsweise die Verdauung. Obwohl ich mit Mönchen gesprochen habe, die behaupten, ihren Herzschlag und ihre Verdauung kontrollieren und sich ihrer bewusst sein zu können, gehen wir für diese Diskussion davon aus, dass Sie diese Fähigkeit noch nicht beherrschen.

Dann gibt es die Dinge, auf die Sie achten. Denken Sie an das Beispiel Ihrer Zehen und Ihrer Atmung zurück; Sie haben ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie achten auf diese Worte; tatsächlich glaube ich, dass sich Ihre Erfahrung durch die Wahrnehmung der unzähligen Veränderungen der Empfindungen (von der Wahrnehmung zur Halbwahrnehmung und umgekehrt) während der Phasen des Wachseins und Schlafs, von der Geburt bis zum Tod, verändern wird.

Bisher habe ich behauptet, dass Sie einige Dinge bereits bemerken, andere Dinge möglicherweise bemerken und manche Dinge nie bemerken oder sich ihrer nie bewusst sein können. Aber wie geschehen Dinge auf der Ebene des Gehirns oder auf der unbewussten Ebene, ohne dass man sich dessen bewusst ist?

Das Corpus callosum ist ein wichtiger weißer Substanzbereich im Gehirn höherer Säugetiere. Es verbindet die linke und rechte Großhirnhemisphäre und ist das größte weiße Substanzband im Gehirn. Der Großteil der Kommunikation zwischen den beiden Gehirnhälften erfolgt über das Corpus callosum. © UCSF Fetal Treatment Center Es ist unbestritten, dass unser Gehirn in zwei Hemisphären unterteilt ist. Es ist jedoch umstritten, dass die beiden Hemisphären bei der Darstellung der Welt unterschiedliche Rollen spielen. Ich verfolge jedoch die Idee, dass die beiden Hemisphären die Welt, die wir erleben, auf unterschiedliche Weise darstellen. Wenn Sie diesen Artikel beispielsweise in einem Raum lesen, könnten Sie verstehen, dass Ihr Bewusstsein, sich in einem Raum zu befinden, ein Ergebnis Ihrer rechten Hemisphäre ist, da die rechte Hemisphäre Dinge zu einem Ganzen integriert. Andererseits werden Sie aufgrund der Aktivität Ihrer linken Gehirnhälfte den Stuhl, die Bettlaken, die Kleidung oder andere bestimmte Gegenstände im Raum wahrnehmen.

Wenn ich sage „Die rechte Hemisphäre macht dies“ oder „Die linke Hemisphäre macht das“, sollte der Leser beachten, dass im Gehirn eines jeden Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt beide Hemisphären aktiv beteiligt sind. Sofern keine Hemisphäre beschädigt oder entfernt wird, bewegen sich beide Hemisphären gleichzeitig. An fast allen Denkprozessen und sogar an allen mentalen Zuständen sind beide Hemisphären beteiligt: ​​Zwischen ihnen werden ständig Informationen ausgetauscht.

Informationen können mehrmals pro Sekunde in beide Richtungen übertragen werden. Die durch die Scans erkennbare Aktivität ist eine Funktion des eingestellten Schwellenwerts: Wenn der Schwellenwert niedrig genug eingestellt ist, kann man fast überall im Gehirn durchgehend Aktivität feststellen. Doch auf empirischer Ebene ist die Welt, wie wir sie kennen, durch die Arbeit beider Hemisphären integriert, wobei jede ihre eigene Art hat, die Welt zu verstehen – ihre eigene „Sicht“ darauf. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Integration eine 50:50-Aufteilung sein wird.

Darüber hinaus besteht das Problem individueller Unterschiede hinsichtlich der Hemisphärendominanz und der Lateralisierung des Gehirns. In diesem Artikel werde ich über die „rechte Hemisphäre“ und die „linke Hemisphäre“ sprechen, als ob diese Konzepte universell anwendbar wären. Aber das ist nicht der Fall. Diese Bedingungen sind als allgemeine Bedingungen zu verstehen.

Die beiden Gehirnhälften sind durch das Corpus callosum verbunden, ein C-förmiges Bündel von Nervenfasern. Das Corpus callosum enthält etwa 300 bis 800 Millionen Fasern, die topologisch ähnliche Regionen der beiden Hemisphären verbinden. Allerdings sind nur 2 % der Neuronen in der Großhirnrinde an dieses Nervenfaserbündel gebunden. Darüber hinaus besteht der Hauptzweck vieler Verbindungen tatsächlich in der Hemmung, d. h. darin, Störungen aus der anderen Hemisphäre zu blockieren.

Falls Sie ratlos sind: Das bedeutet, ganz unverblümt, dass die linke und die rechte Gehirnhälfte nicht miteinander kommunizieren (wenn Sie ein professioneller Kognitionswissenschaftler, Neurologe, Chirurg oder jemand sind, der viel Literatur zu diesem Thema gelesen hat, beachten Sie bitte, dass dies eine Vereinfachung darstellt und nicht diffamierend gemeint ist).

Phineas Gage (1823–1860) überlebte einen Schuss durch den Kopf mit einem Stopfeisen. © MedicineNet

Der Grund, warum wir uns eingehender mit dem Lateralitätsvorteil befassen, besteht darin, unseren nächsten Punkt anzusprechen, der mit einem Mann namens Phineas Gage zu tun hat. Er überlebte einen Unfall, bei dem eine große Eisenstange vollständig durch seinen Kopf getrieben wurde und dabei den größten Teil des linken Frontallappens seines Gehirns zerstörte. Die Verletzung hatte Berichten zufolge dramatische Auswirkungen auf seine Persönlichkeit und sein Verhalten in den verbleibenden zwölf Jahren seines Lebens – so sehr, dass seine Freunde (zumindest eine Zeit lang) glaubten, er sei „nicht mehr Gage“.

Dies lässt darauf schließen, dass sich die Persönlichkeit einer Person völlig verändern kann, wenn sie nur einen Teil ihrer Gehirnhälfte nutzen kann. Es ist nicht weit hergeholt, dass Phineas Gages rechter Frontallappen die Funktionen seines linken Frontallappens übernimmt. Doch die Art und Weise, wie diese Funktionen ausgeführt werden, wirkt sich auf den Charakter der betreffenden Person aus.

Es fällt mir jedoch schwer, mir vorzustellen, dass das Gehirn von Phineas Gage keine neue Persönlichkeit entwickelte, als sein linker Frontallappen beschädigt wurde. Der rechte Frontallappen könnte an der Ausbildung dieser Verhaltensweisen oder der Persönlichkeit selbst beteiligt gewesen sein. Aber nachdem der linke Frontallappen vollständig zerstört ist, wird die Persönlichkeit des rechten Frontallappens dominant.

Ein weiterer zu beachtender Punkt ist, dass das Gehirn in vier Lappen unterteilt ist, aber die Schädigung nur eines Lappens solch drastische Veränderungen verursachen kann. Es ist ein quasi-freudianisches Bild des Gehirns.

Worauf ich aber hinaus möchte, ist folgendes: Eine Verletzung kann einen Bereich des Gehirns verändern. Möglicherweise werden Ihnen andere Persönlichkeiten bewusst, die Ihnen vorher nicht bewusst waren. Das kontroverse Argument, das ich vorbringen möchte, ist, dass Ihr Gehirn dabei hilft, mehrere Persönlichkeiten zusammenzufügen, aber nur eine Persönlichkeit dominant ist und zum Zentrum des Bewusstseins wird.

Diese Verflechtung multipler Persönlichkeiten erleben wir täglich. Nehmen wir zum Beispiel unsere Gedanken. Jeder von uns (außer Robotern) hat einen Verstand. Aber was genau bedeutet es, nachdenklich zu sein? Nun, fast alles, was Sie erleben, ist Denken. Menschliche Aktivitäten, von den konstruktivsten, wie der Suche nach einer Behandlung für die Coronavirus-Pandemie, bis zu den destruktivsten, wie der Herstellung biologischer Waffen, sind das Produkt des Denkens von Menschen wie uns. Aber in unseren Köpfen leben wir unter einer Art Tyrannei.

Wir denken oft, dass diese Gedanken von uns selbst erschaffen wurden, doch um es mit der buddhistischen Tradition auszudrücken: Auch das Selbst ist ein geistiges Konstrukt. Jeder, der schon einmal meditiert hat, weiß, dass man seine Gedanken „sieht“, sobald man sich auf die Atmung konzentriert. Es handelt sich um die wirreste, chaotischste, konfrontativste, respektloseste und intoleranteste Person, die Sie jemals getroffen haben. Es ist, als ob Sie einen verrückten Mitbewohner im Kopf hätten, der nie den Mund hält, den Sie aber nicht kontrollieren können.

Woher also kam diese Idee? Um auf meinen kontroversen Punkt zurückzukommen: Ich glaube, dass es in Ihrem Kopf eine Person/Persönlichkeit gibt, die auf quasi-freudianische Weise existiert, ohne jemals Ihr Bewusstsein und Ihre Gedanken vollständig zu kontrollieren. Diese Ideen fanden jedoch Anklang. Dies könnte die multiple Persönlichkeitsstörung erklären, eine psychische Störung, bei der eine Person mehr als eine Persönlichkeit hat. Irgendwie übernahmen auch diese unbewussten Persönlichkeiten (entschuldigen Sie, dass ich das schreibe) die Kontrolle. Wenn also ein unglückliches Ereignis wie das von Phineas Gage eintritt, bringt der Teil des Gehirns, der die Arbeit des beschädigten Bereichs übernimmt, auch seine Persönlichkeiten mit, die zum Zentrum unseres Bewusstseins werden oder unsere Sicht auf die Welt dominieren. Den Leuten wird das erst klar, wenn so etwas passiert.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass in Ihrem Kopf viele Menschen koexistieren, alle mit unterschiedlichen Eigenschaften, Perspektiven, Ideen, Denkprozessen, Persönlichkeiten, Fehlern, Stärken, sexuellen Vorlieben, Überzeugungen, Wünschen, Zielen und so weiter. Die meisten von ihnen haben jedoch nie die Hauptrolle gespielt.

Von Jehanzaib Sajid Kabir

Übersetzt von Amanda

Korrekturlesen/Yord

Originalartikel/jehanzaibsajid.medium.com/the-divided-mind-60fd45d499fb

Dieser Artikel basiert auf der Creative Commons-Lizenz (BY-NC) und wird von Amanda auf Leviathan veröffentlicht

Der Artikel spiegelt nur die Ansichten des Autors wider und stellt nicht unbedingt die Position von Leviathan dar