Warum starb der erste Patient, der eine klinische Behandlung mit Penicillin erhielt?

Warum starb der erste Patient, der eine klinische Behandlung mit Penicillin erhielt?

Guns and Roses der Penicillin-Geschichte

Von Bill Sullivan, Professor für Pharmakologie und Toxikologie, Indiana University

Zusammengestellt von Veronica

Abbildung 1: Der Einsatz von Penicillin läutete die Antibiotika-Revolution ein. Ob in Kriegs- oder Friedenszeiten, die klinische Anwendung von Penicillin hat unzählige Leben gerettet. | Quelle: Science & Society Picture Library

Albert Alexanders Leben neigte sich dem Ende zu. Der Zweite Weltkrieg brach vielerorts aus, der Krieg tobte und die Menschen lebten im Elend. Alexander ist nur ein Tropfen im Strom dieser Ära. Ursprünglich war er Polizist im englischen Oxford. Unglücklicherweise entzündete sich eine Wunde in seinem Gesicht schwer und verursachte eine tödliche Sepsis. In diesem Moment greifen unzählige furchterregende Bakterien sein Blut an.

Alexanders Arzt, Charles Fletcher[1], beschrieb ihn als jemanden, der unsägliche Schmerzen hatte und „extrem krank und schwer krank“ war. Die bakterielle Infektion fraß ihn bei lebendigem Leibe auf – er hatte bereits ein Auge verloren, sein Gesicht war mit Eiter bedeckt und sogar seine Lunge war in Mitleidenschaft gezogen.

Da alle derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft waren und der Tod unmittelbar bevorstand, war Dr. Fletcher der Ansicht, dass Alexander der beste Kandidat für die Erprobung neuer experimenteller Behandlungsmethoden sei. Am 12. Februar 1941, einem denkwürdigen Tag in der Geschichte, war Alexander der erste Mensch, der eine klinische Behandlung mit Penicillin erhielt. Innerhalb weniger Tage verbesserte sich sein Zustand dramatisch.

Abbildung 2: Albert Alexander in Polizeiuniform. Auf dem Bild steht er groß da und hat ein Lächeln im Gesicht. | Quelle: Linda Willason (Alexanders Enkelin)

Als Professor am Institut für Pharmakologie kenne ich Alexanders Geschichte. Ich verwende seine Geschichte jedes Jahr als Einleitung zu meinen Antibiotika-Vorlesungen. Wie viele andere Dozenten der Mikrobiologie erzählte ich meinen Studenten immer, dass Alexander eine Sepsis erlitten hatte, nachdem er sich beim Beschneiden eines Rosenbuschs in seinem Garten versehentlich die Wange an einem Dorn aufgeschnitten hatte. Diese Aussage ist nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur zum Mainstream geworden, sondern findet sich auch in aktuellen Berichten und Büchern.

Das Problem besteht darin, dass die Geschichte über die wundersame Wirkung des Penicillins zwar zutreffend ist, die Einzelheiten über Alexanders Verletzung jedoch verworren und verschwommen sind. Dies ist höchstwahrscheinlich auf die Propagandapolitik während des Krieges zurückzuführen.

Neue Wege gehen

Bereits 1928 erkannte der Mikrobiologe Alexander Fleming das Potenzial von Penicillin als Antibiotikum. Fleming, der am St. Mary's Hospital in London arbeitete, wurde später durch eine zufällige Entdeckung in einer Petrischale berühmt. Fleming züchtete damals Staphylokokken-Bakterien in Petrischalen. Er entdeckte zufällig, dass Staphylokokken-Bakterien in mit Penicillium kontaminierten Petrischalen nicht normal wachsen konnten[2]. Fleming kam zu dem Schluss, dass der „Saft“ von Penicillium bestimmte Arten von Bakterien abtöten könne.

Abbildung 3: Der Bakteriologe Alexander Fleming, der vor allem als Entdecker des Antibiotikums Penicillin im Jahr 1928 bekannt ist, beobachtet Bakterienkolonien auf einer Petrischale mithilfe eines Mikroskops. | Quelle: Science & Society Picture Library

Zehn Jahre später nahm sich ein Forscherteam unter der Leitung von Howard Florey an der Universität Oxford der mühsamen Aufgabe an, den Wirkstoff aus dem „Penicillium-Saft“ zu extrahieren und zu reinigen und seine antibakteriellen Eigenschaften formal zu testen. Im August 1940 veröffentlichten Florey und seine Kollegen ihre bahnbrechenden Forschungsergebnisse[3]: Gereinigtes Penicillin heilte erfolgreich eine Vielzahl bakterieller Infektionen bei Mäusen.

Tierversuche haben zwar erste Erfolge gebracht, die Versuche am Menschen waren jedoch mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Florey nahm Kontakt mit Dr. Fletcher auf, in der Hoffnung, dass dieser bei der Suche nach einem Patienten helfen könnte, der für eine klinische Behandlung mit Penicillin geeignet wäre. Später erfuhren wir, dass der ausgewählte Patient Alexander war. Zu diesem Zeitpunkt hatte er keine andere Wahl. Wenn er die experimentelle Behandlung nicht versuchen würde, wäre sein Leben in Gefahr. Wie Dr. Fletcher sagte: „Er hat nichts zu verlieren, wenn er Penicillin nimmt.“

Zu dieser Zeit war gereinigtes Penicillin aufgrund der langsamen Wachstumsrate von Penicillium und der geringen einmaligen Ausbeute äußerst selten. Zur Heilung eines Menschen ist eine wesentlich größere Menge Penicillin erforderlich als zur Heilung einer Maus. Die Ärzte mussten das unzersetzte Penicillin aus Alexanders Urin gewinnen, aber selbst dann reichte die Menge nicht aus, um die Infektion vollständig zu beseitigen. Am 10. Tag nach der Besserung des Zustands des Patienten trat die bakterielle Infektion, die nicht ausgerottet worden war, erneut auf. Alexander überlebte diese Katastrophe letztendlich nicht. Am 15. März 1941 starb er im Alter von 43 Jahren.

Ein Stein kann tausend Wellen verursachen. Obwohl der Ausgang nicht den Erwartungen entsprach, sorgte Alexanders Fall in der wissenschaftlichen Gemeinschaft für Aufsehen und die Penicillinforschung erregte unzählige Aufmerksamkeit. Dr. Fletcher sagte: „Es ist klar, dass Penicillin Patienten mit bakteriellen Infektionen vorübergehend Linderung verschaffen kann. Besonders wichtig ist, dass wir während der fünf Tage, in denen Alexander Penicillin-Injektionen erhielt, keine toxischen Nebenwirkungen beobachtet haben.“

Am 14. März 1942, ein Jahr nach Alexanders Tod, injizierten Ärzte in Connecticut, USA, einer anderen Patientin Penicillin.[4] Die Patientin, Anne Miller, war aufgrund einer durch Staphylokokken verursachten Sepsis dem Tode nahe. Nachdem Miller ausreichend Penicillin gespritzt bekommen hatte, erholte er sich auf wundersame Weise vollständig und war der erste Mensch, der durch Penicillin geheilt wurde. Millers Genesung war so inspirierend, dass die Produktion von Penicillin im großen Maßstab zu einer der obersten Prioritäten des US-Kriegsministeriums wurde[5], übertroffen nur vom Manhattan-Projekt (einem Plan zur Nutzung von Kernspaltungsreaktionen zur Entwicklung von Atombomben, mit dessen Umsetzung das US-Kriegsministerium im Juni 1942 begann). Während des Zweiten Weltkriegs trug der Einsatz von Penicillin nicht nur dazu bei, Infektionen der Wunden von Soldaten vorzubeugen, sondern ermöglichte es mit Gonokokken infizierten Soldaten auch, auf das Schlachtfeld zurückzukehren. Es ist unbestreitbar, dass Penicillin eine wichtige Rolle beim endgültigen Sieg der Alliierten spielte.[6]

Abbildung 4: „Rennen mit dem Tod“, Propagandaplakat des US-Kriegsministeriums zwischen 1942 und 1945. Auf dem Plakat steht: „Je schneller dieses Gebäude fertiggestellt ist, desto eher erhalten verletzte Soldaten das Wundermittel, das ihr Leben retten kann – Penicillin.“ | Quelle: Library of Congress

Die Geschichte vom Rosenbusch ist der Dorn in ihren Herzen

Heute ist Albert Alexander als der erste Mensch bekannt, der Penicillin zur klinischen Behandlung einsetzte und damit bedeutende Spuren in der Geschichte hinterließ. Auch Alexanders „Todesursache“ ist weit verbreitet: eine Sepsis, verursacht durch einen Kratzer an einem Rosenbusch.

Aber ist das wirklich der Fall? Im Jahr 2010 wurde der Historiker Eric Sidebottom, Autor von Oxford Medicine: A Walk Through Nine Centuries, interviewt[7] und die Wahrheit kam ans Licht. Seiner Meinung nach waren es nicht die Rosendornen, die Alexander am 30. November 1940 wirklich zusetzten, sondern die deutschen Bombenangriffe. Die Polizeistation, bei der Alexander arbeitete, wurde von einem Bombenangriff getroffen und sein Gesicht wurde von Granatsplittern verletzt, was schließlich zu einer Infektion und seinem Tod führte.

Abbildung 5: Sheila LeBlanc hält ein Foto ihres verstorbenen Vaters Albert Alexander aus dem Jahr 2012. | Bildquelle: Linda Willason

Alexanders Tochter, Sheila LeBlanc, zog später nach Kalifornien, USA, und wurde Künstlerin. Im Jahr 2012 bestätigte sie Sidbottoms Bericht in einem Interview mit einer Lokalzeitung[8]. Darüber hinaus machte LeBron die Öffentlichkeit auch auf den verheerenden Schlag aufmerksam, den der Tod seines Vaters für die Familie bedeutete. Das Haus, in dem ihre Familie lebte, gehörte ihnen nicht, sondern wurde von ihrer Heimatstadt der Dorfpolizei zur Verfügung gestellt. Nach Alexanders Tod war die Familie LeBlanc gezwungen, wegzuziehen und wurde in den turbulenten Zeiten obdachlos. Alexanders Witwe musste arbeiten gehen, da sie ihre Einkommensquelle verloren hatte und nicht in der Lage war, für die Kinder zu sorgen. LeBlanc und ihr Bruder wurden in ein Waisenhaus geschickt, wo sie die Höhen und Tiefen des Lebens erlebten. Sie war damals erst sieben Jahre alt.

Michael Barrett, Professor am Institut für Biochemie und Parasitologie der Universität Glasgow im Vereinigten Königreich, sprach per E-Mail mit LeBron über Alexanders Tod. In einem Artikel aus dem Jahr 2018[9] schrieb Barrett, dass das Haus, in dem sie lebten, laut LeBlancs Erinnerung zwar einen wunderschönen Rosengarten hatte, dieser jedoch nichts mit der tödlichen Verletzung ihres Vaters zu tun hatte. Es war der deutsche Blitzkrieg, nicht ein kleiner Rosendorn, der ihren Vater tötete.

Im Februar 2022 gelang es mir, Kontakt zu Alexanders Enkelin Linda Willason aufzunehmen. Wie ihre Mutter wurde Willarson Künstlerin in Kalifornien. Sie bestätigte mir gegenüber die Splittertheorie und tat die Rosenbusch-Geschichte als „bloßen Propagandatrick aus Kriegszeiten“ ab. Um die Stabilität zu wahren, spielte die damalige Regierung die durch die Bombenangriffe verursachten Schäden herunter.

Abbildung 6: Ein Werbeplakat über die Rolle des Penicillins im Zweiten Weltkrieg aus dem Jahr 1944. Der Titel des Plakats lautet: „Dank Penicillin wird er zu seiner Familie nach Hause zurückkehren.“ In kleiner Schrift in der unteren linken Ecke heißt es, dass sich das aus gewöhnlichem Schimmel gewonnene Medikament (Penicillin) in diesem Krieg zum wirksamsten Wundheilmittel entwickelt hat. | Bildquelle: Schenley Laboratories, Inc.

Während die Ursache für Alexanders Verletzung für manche ein unwichtiges Detail zu sein scheint, ist es äußerst wichtig, die relevanten historischen Aufzeichnungen zu korrigieren. Alexander war ein engagierter Polizist, der leider bei der Ausübung seines Dienstes verletzt wurde und infolgedessen verstarb. Sein Tod war tragisch und es lohnt sich, an ihn zu denken. Obwohl die Geschichte des Rosenbuschs eine schöne Hülle hat, verbirgt sie die Essenz seines Todes im Dienst. Alexanders Nachkommen hofften, dass die Wahrheit ans Licht käme und der fiktive Rosenbusch in Vergessenheit geraten würde.

Im Jahr 2021 wurde in Newbury, England, eine Gedenktafel zum Gedenken an Alexander errichtet.[10] Dort heißt es: „Am 30. November 1940 wurde Polizeibeamter Albert während seines Dienstes in Southampton bei einem Luftangriff verletzt. Die Wunde verursachte eine Infektion mit Staphylokokken und Streptokokken und führte zu einer Sepsis. Albert wurde in das Radcliffe Infirmary in Oxfordshire verlegt und war der erste Patient, der eine klinische Behandlung mit Penicillin erhielt. Nach der Einnahme des Medikaments besserte sich sein Zustand sofort deutlich, doch aufgrund der damals unzureichenden Penicillinproduktion trat die bakterielle Infektion leider erneut auf. Er starb am 15. März 1941. Albert leistete einen unauslöschlichen Beitrag zur Geschichte der Antibiotikaentwicklung.“

Abbildung 7 Eine im Jahr 2021 errichtete Gedenktafel erzählt die wahre Geschichte des Polizisten Alexander. Viele Jahre nach seinem Tod gibt es in den Geschichten über ihn endlich keine Rosendornen mehr. | Bildquelle: Newbury Town Council/Wikimedia Commons

Verweise

[1] Fletcher C. (1984). Erster klinischer Einsatz von Penicillin. Br Med J (Clin Res Ed) 1984;289:1721

[2] Fleming A. (1929). Über die antibakterielle Wirkung von Penicillium-Kulturen, insbesondere im Hinblick auf ihre Verwendung bei der Isolierung von B. influenzæ. Britische Zeitschrift für experimentelle Pathologie, 10(3), 226–236.

[3] Chain E. et al. (1940). Penicillin als Chemotherapeutikum. The Lancet, Band 236, Ausgabe 6104, 226 - 228

[4] https://www.nytimes.com/1999/06/09/us/anne-miller-90-first-patient-who-was-saved-by-penicillin.html

[5] https://www.washingtonpost.com/history/2020/07/11/penicillin-coronavirus-florey-wwii-infection/

[6] https://us.macmillan.com/books/9780805077780/the-mold-in-dr-floreys-coat

[7] https://www.ox.ac.uk/news/science-blog/penicillin-oxford-story

[8] https://www.pe.com/2012/11/02/redlands-local-artists-share-childhood-bond/

[9] https://mosaicscience.com/story/penicillin-first-patient-history-albert-alexander-AMR-DRI/

[10] https://www.bbc.com/news/uk-england-berkshire-57208267

Originallink:

https://theconversation.com/guns-not-roses-heres-the-true-story-of-penicillins-first-patient-178463

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